Die Lage ist dramatisch

Im folgenden dokumentiere ich den (leicht gekürzten) Brief des Krisenstabes Energie der Stadt Reichenbach im Vogtland vom 4. Oktober, den der Oberbürgermeister an alle Bundestagsabgeordneten verschickt hat:

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

bezugnehmend auf unseren ersten Brief an Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck vom 1. August 2022, schildern wir Ihnen hiermit die Auswirkungen der Energiekrise, wie sie sich gut drei Monate später darstellt, auf die Menschen, die Kommune, die Wirtschaft, die Energieversorgungsunternehmen und die kommunalen Wohnungsunternehmen.

Wegen der dramatisch gestiegenen Energiepreise stehen immer mehr Unternehmen mit dem Rücken zur Wand. So rechnet inzwischen schon jede zweite Firma in den neuen Bun­desländern damit, dass ihr Geschäftsmodell bei weiter steigenden Strom- und Gaskosten gefährdet ist.

Wir sind in einer dramatischen Energiepreiskrise und für den Winter drohen Versorgungs­engpässe bei Gas und Strom. Angst und Ohnmacht machen sich breit. Ein System kommt ins Wanken.

Die kommunale Ebene:

[…} obwohl Reichenbach bereits seit Jahren ein Energiemanagement hat, eng mit den Stadtwer­ken zusammenarbeitet und frühzeitig in Photovoltaikanlagen investiert hat (und das auch weiter tut), kommen auf die Stadt Mehrkosten von rund 600.000 Euro zu. Dazu kommen wei­ter steigende Kosten für Baumaßnahmen, die aus den Rohstoffpreisen und natürlich aus der Erhöhung des Mindestlohnes resultieren.

Große Firmen in den Industrie- und Gewerbegebieten der Stadt, die bis vor Kurzem noch eine Vergrößerung ihres Standortes ins Auge gefasst hatten, haben bereits jetzt ihre Gewerbesteuervorauszahlungen für dieses Jahr deutlich verringert. Das kann bis hin zu Gewerbesteuerrückzahlungen durch die Kommune gehen. Das betrifft natürlich auch kleinere Firmen und traditionelle Handwerkerbetriebe.

Damit haben die Städte keinerlei finanzielle Spielräume mehr, freiwillige Aufgaben, wie die Förderung von Kultur und Freizeit oder das Vereinswesen, zu tragen. […] Fraglich ist, ob über­haupt noch dringend erforderliche Reparaturen machbar sind. Es müssen alle Ausgaben der Stadt auf den Prüfstand. […]

Die Preissituation im Gaseinkauf hat dramatische Ausmaße angenommen. Im Moment wird für das Jahr 2023 einen Anstieg von 55 % verzeichnet. Hinzu kommen staatlich veranlasste Abgaben wie die Gasbeschaffungsumlage, die Gasspeicherumlage und die Bilanzierungs­umlage – das macht in Summe eine Steigerung von 110 %. […] Bei Industriekunden gibt es sogar Steigerungen von bis zu 500 %! Die Gefährdung von Existenzen sowohl im privaten als auch im gewerblichen Bereich sind vorprogrammiert.

[…] Die Entwicklung der Strompreise verläuft nicht weniger dramatisch. So liegt der Anstieg im Jahr 2023 bei 41 %, im Jahr 2024 kommen weitere 26 % hinzu. Industriekunden, die für das kommende Jahr noch keinen Stromliefervertrag geschlossen haben, müssen mit Preissteige­rungen zwischen 940 und 1.200 % gegenüber im Jahr 2021 geschlossenen Verträgen rechnen! Für das Jahr 2024 liegt der momentane Verhandlungspreis zwischen 420 und 560 % höher als noch vor einem Jahr.

Ein Großteil der Kunden (Mieter, Wohnungswirtschaft, Industrie, Gewerbe) wird diesen im­mensen Kostensprung ab 2023 in Form steigender Abschlagszahlungen bzw. Rechnungen nicht schultern können. Die Folge sind Zahlungsausfälle in Größenordnungen und damit die Gefährdung der Liquidität der Stadtwerke Reichenbach.

Derzeit geht das Unternehmen für das kommende Jahr von einer Liquiditätslücke in Höhe der Bilanzsumme von etwa 27 Mio. Euro aus! […]

Viele Fragen sind offen. Was wird aus der kommunalen Wohnungsgesellschaft, wenn viele Mieter die Nebenkosten nicht mehr zahlen können? […] Für eine Vierraumwohnung in einer Größe von ca. 81 m2 steigen die monatlichen Betriebskosten von 190 Euro pro Monat auf 395 Euro pro Monat im Jahr 2023. Sie sind also mehr als doppelt so hoch. Die Betriebskosten übersteigen somit den Quadratmeterpreis der Wohnungen im ländlichen Raum. Dieser liegt in beiden Fällen bei nur 4,27 Euro. Dabei steigen die Kosten für Wohnungen die mit Fernwärme versorgt werden, ebenso wie für gasversorgte Haushalte. Die Prognosen für 2024 sprechen von einer Vervierfachung der Preise. Dazu kommen dann noch die erhöhten Stromkosten, die die Mieter individuell mit dem Versorger abrechnen.

Die kommunale Wohnungswirtschaft geht davon aus, dass 75 % der Mieter aufgrund ihrer Einkommenssituation die erhöhten Energiekosten nicht tragen können. Die Folgen für die Wohnungsunternehmen sind erhebliche Liquiditätsprobleme (insbesonde­re durch Mietausfälle, Vorauszahlung erhöhter Beschaffungskosten), die in die Millionenhöhe gehen können.

Die Wohnungsunternehmen haben keine Liquidität mehr für Bauvorhaben (Investitions­stopp), für die laufende Instandhaltung, für eine Gestaltung und Pflege des Wohnumfeldes, keine Mittel für die weitere Umsetzung von Maßnahmen der Energiewende, wie Investitionen in klimaneutrale Gebäude. Ein Wertverlust durch unterlassene Investitionen bis hin zum wirt­schaftlichen Ruin der Wohnungsunternehmen in den Städten ist vorprogrammiert.

Die Wirtschaft:

Die Energiekostensteigerungen, verbunden mit den enorm gestiegenen Rohstoffpreisen sind allgemein für keinen Wirtschaftszweig mehr abzufangen.

Konkret heißt das zu Beispiel, die Strom- und Gaskosten für ein traditionelles Fleisch- und Wurstunternehmen der Stadt, gegründet 1892, dessen Waren regional und überregional seit Generationen bekannt und beliebt sind, erhöhen sich von 104.000 Euro in diesem Jahr auf 732.000 Euro im kommenden Jahr. Obwohl in den letzten Jahren erhebliche Investitionen in erneuerbare Energien getätigt wurden und der Energiebezug um 35% dadurch gesenkt wur­de, kann dieses Unternehmen diesen Mehraufwand nicht stemmen. Sollte man die Kosten auf die Produkte umlegen, ist ein weiterer Anstieg der Inflation unumgänglich.

In anderen Branchen werden auf Grund der Kostensteigerungen zugesagte Aufträge für das kommende Jahr storniert. Es droht Kurzarbeit und eine Entlassungswelle. Große Industriebetriebe verlagern Ihre Produktion ins Ausland. Ein zurückkehren an den alten Standort ist dann keine Option mehr!

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

die Unterzeichner fordern die Bundesregierung auf, ihre Krisenstrategie zu überdenken und ideologiefreie, erklärbare und tragbare Konzepte und pragmatische Lösungen zur Bewältigung dieser dramatischen Entwicklung auf den Weg zu bringen.

Wichtig ist eine sichere, grundlastfähige und bezahlbare Strom- und Gasversorgung. Es müs­sen soziale Notlagen und wirtschaftliche Schäden von den Unternehmen und Menschen abgewendet werden.

Sollten die Strom- und Gaspreise weiterhin auf diesem hohen Niveau bleiben, werden die Un­ternehmen nach und nach die Produktion zurückfahren bzw. komplett einstellen müssen. Die Versorgungssicherheit wird nicht mehr gewährleistet sein und infolgedessen wird die Existenz vieler Menschen sowie Unternehmen gefährdet.

Ein spürbarer Energiepreisdeckel, schnell umgesetzt, wäre ein Mittel, das dem entgegenwirkt. Es wird sonst zu einer Abwärtsspirale aus überschuldeten Privathaushalten, fehlenden Unter­nehmensgewinnen und ausbleibenden Steuereinnahmen kommen. Unsere Gesellschaft wird mit den zum Zeitpunkt anliegenden Problemen nicht mehr umgehen können.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Zeit drängt. Verhindern Sie mit einer klugen Politik den Ausbruch von Gewalt, Polarisierungen zwischen den Menschen, extreme Einbußen des Zu­sammenhalts und den Zusammenbruch von Existenzen der Menschen in Größenordnungen.